Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 16: Nigeru – Flucht --------------------------- Aoi:   Uruhas Hand streichelt immer weiter meine Wirbelsäule hinauf, seine zweite schiebt sich ebenfalls unter mein dünnes Shirt und die Gänsehaut, die seinen Berührungen folgt, lässt mich wohlig erschauern. Ich seufze in unseren Kuss, dränge mich näher gegen seinen herrlich warmen Oberkörper. Alles ist neu und aufregend und gleichzeitig fühlt es sich so an, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen; als hätte ich jede Sekunde in seiner Gegenwart auf diesen Moment hingearbeitet. Vielleicht habe ich das ja? Vielleicht wusste mein Unterbewusstsein viel früher als ich, dass ich ihm verfallen bin. Und das bin ich. Ich bin wie Wachs in seinen Händen, habe jeden rationalen Gedanken aus meinem Kopf verbannt.   Nur er zählt; er und dieser Wahnsinnskuss. Hat ein simples Aufeinandertreffen zweier Lippen jemals solch starke Gefühle in mir ausgelöst? Nein, sicher nicht. In den zweiunddreißig Jahren meiner Existenz auf diesem Erdball habe ich mich noch nie so aufgewühlt und zufrieden zugleich gefühlt. Selbst der erste Kuss, den Reita und ich vor so vielen Jahren geteilt haben, hat meine Welt nicht derart aus den Angeln gehoben. Reita zu küssen, fühlt sich immer an wie nach langer Abwesenheit nach Hause zu kommen. Unaufgeregt, liebevoll und schlichtweg richtig. Genaugenommen der perfekte Kontrast zu dem, was ich gerade empfinde.   Ich keuche, weil Uruha dazu übergegangen ist, seine Fingernägel sanft über meine Haut kratzen zu lassen. Ob er spürt, dass ich doch wieder in meinen Gedanken versunken bin? Vielleicht. Entschuldigend küsse ich ihn tiefer, inniger, bis sich auch aus seiner Kehle ein unterdrückter Laut stielt. Oh ja, genau das will ich hören und nur das unwillige Murren, das folgt, als ich mich von ihm löse, klingt noch süßer in meinen Ohren. Aber er muss sich nicht sorgen, ich werde mich hüten und ihm einen wahren Grund zur Unzufriedenheit geben. Zielsicher finde ich die Stelle an seinem Hals, die meinen Zähnen zuvor bereits zum Opfer gefallen ist. Ich will ihn zeichnen, ihn für alle Welt sichtbar mein machen. Ist das eine typisch männliche, ziemlich antiquierte Denkweise? Ich glaube schon, aber gegen meine Instinkte kann und will ich nicht ankämpfen. Falls Uruha etwas dagegen hat, verstehe ich seine Proteste nicht, denn nur ein lang gezogenes Stöhnen dringt an meine Ohren. Seine Hand stiehlt sich unter meinem Shirt hervor, um sich in mein Haar zu krallen. Der Griff seiner Finger grenzt an schmerzhaft, aber er zieht mich nicht fort, sondern hält mich an Ort und Stelle.   Ich lächle gegen die erhitzte Haut, lecke über die noch wärmere Stelle und bedecke diese mit kleinen Küssen. Wie gern würde ich den leuchtend roten Fleck mit Stolz begutachten, den Kontrast zu Uruhas heller Haut bewundern, aber es ist zu dunkel im Wohnzimmer und dieser Luxus bleibt mir verwehrt. Den Schwall Bedauern, der über mich kommen will, schiebe ich schnell beiseite. Uruha macht es mir leicht, indem er mich von seinem Hals weg und wieder hin zu seinen Lippen dirigiert.   „Uruha“, wispere ich seinen Namen wie ein Mantra und lächle, als er ungeduldig nach meiner Unterlippe hascht. Ich lasse mich nicht bitten, erobere seinen Mund erneut und frage mich gleichzeitig, wie ich bislang leben konnte, ohne diesen wundervollen Mann küssen zu dürfen. Wie ignorant von mir. Hitze steigt in mir auf, sammelt sich in meinem Magen, eine Mischung aus unendlichem Glück und beginnender Lust. Bislang habe ich Uruha eher zurückhaltend erlebt, aber von dieser Scheu ist nun nichts mehr zu spüren. Ich stöhne gegen seine Lippen, als seine Rechte den Weg auf meinen Bauch findet, sich freche Finger unter den Bund meiner Hose mogeln. Nur ein kleines Stück, neckend, reizend, dann verschwinden sie wieder und kommen erneut. Es macht mich wild, er macht mich wild und obwohl wir uns Zeit lassen sollten, noch so vieles zu klären hätten, kann ich für den Moment nicht vernünftig sein.   Noch bevor ich genauer darüber nachdenken kann, liegen meine beiden Hände an Uruhas Wangen, dränge ich ihn gegen die Rückenlehne des Sofas und küsse ihn so heftig, dass nicht nur mir der Atem wegbleibt. In meiner Fantasie verlieren wir uns beide im Strudel der Lust, werfen die verbleibende Zurückhaltung über Bord und geben uns einander hin. Die Realität wartet jedoch mit schweren Geschützen auf, die mich wie ein Schwall kaltes Wasser aus meinem Delirium reißen.   „Nicht!“ Uruhas Stimme ist rau und schrill gleichermaßen, als er meine Hände von sich drückt und mich gleich mit. Ich lande ungelenk auf dem Sofa, als er aufsteht und sich bereits einige Schritte von mir entfernt hat, bevor ich überhaupt begreifen kann, was gerade geschehen ist.   „Uruha?“ Sein Name kommt mir deutlich verunsichert über die Lippen und ich versuche, seine Umrisse im vorherrschenden Halbdunkel auszumachen. „Was ist? Habe ich etwas falschgemacht?“   „N… Nein“, stottert er und ich höre das Rascheln von Stoff, seinen hektischen Atem, den er zu beruhigen versucht. Was ist passiert? Ich versuche, mich an die vergangenen Sekunden zu erinnern, daran, ob ich ihm aus Versehen wehgetan haben könnte, aber da ist nichts. Nichts außer unser Kuss, seine neckenden Berührungen …   „Bitte, rede mit mir, was ist denn?“ Ich stehe auf, glätte unsinnigerweise mein Shirt, als sähe Uruha nicht, wie desolat mein Zustand ist. Ein deutlicher Vorteil mir gegenüber, stelle ich verbittert fest und verziehe den Mund.   „Es … es ist nichts, Aoi, alles gut. Ich will nur … ich brauche einfach …“ Er schnaubt und ich bin mir sicher, all seine Frustration aus diesem kleinen Laut heraushören zu können. Ärgert er sich, weil er mir nicht sagen kann, was ihn stört oder bin ich es, der ihn frustriert? Meine Unterlippe schmerzt, so fest grabe ich die Zähne ins Fleisch, um mich davon abzuhalten, zu ihm zu gehen. Ich ahne, dass meine Nähe gerade das Letzte ist, was er braucht, und ein schmerzhafter Stich jagt mir durchs Herz. Wenn er mir nur sagen würde, was los ist. „Ich brauche etwas Zeit, okay? Das alles ging … ziemlich schnell.“ Er lacht, aber es klingt nicht ehrlich. Seine Umrisse, die alles sind, was ich erkennen kann, wirken eingesunken, als würde er sich kleiner machen. Versteckt er sich vor mir? Warum?   „Natürlich“, höre ich mich sagen, obwohl ich verwundert bin, überhaupt einen Ton herauszubringen. Mein Hals fühlt sich wie zugeschnürt an und meine Brust schmerzt, als würden unsichtbare Hände meine Rippen zusammendrücken.   „Dann … mache ich mich mal auf den Heimweg. Gute Nacht, Aoi.“   Diesmal kann ich tatsächlich nicht antworten, nicht einmal reagieren, nur angestrengt nach Luft japsen. Ich höre seine Schritte auf der Treppe und noch immer kann ich mich nicht bewegen. Was ist da gerade nur passiert?   „Warte“, krächze ich und der raue Klang meiner Stimme reißt mich aus meiner Erstarrung. Mit einem Satz bin ich an der Tür, jage die Stufen nach unten und danke dem Umstand, in diesem Haus aufgewachsen zu sein. Ohne diesen Heimvorteil hätte meine kopflose Jagd böse enden können. Gerade noch erreiche ich ihn, bevor er die Haustür hinter sich schließen kann. „Es tut mir leid“, keuche ich, die Hand an das Türblatt gelegt. Uruha dreht sich nicht um. „Ich bin alles falsch angegangen, oder? Die Sache mit Reita und mir, dann der Kuss. Ich hab dich mit allem überfahren.“   „Nein.“ Uruha seufzt leise und ich höre seine Haare gegen den Stoff seiner Winterjacke reiben, als er den Kopf schüttelt. Zumindest vermute ich, dass er das tut, erkennen kann ich es nicht. Ich muss versehentlich den Schalter der Außenbeleuchtung erwischt haben, als ich die Lichter beim Heimkommen eingeschaltet habe, denn der Bewegungsmelder reagiert nicht. Warum mir in diesem Moment ausgerechnet dieser Gedanke durch den Kopf geht, kann ich nur meinem aufgewühlten Gemüt zuschreiben. Noch immer hat Uruha sich nicht zu mir umgedreht, mich für keinen Augenblick angesehen. Ich verziehe den Mund, als sich mein Magen schmerzhaft verkrampft. „Es liegt nicht daran, was du gesagt hast, und auch nicht an unserem Kuss. Es liegt an mir. Ich … ich muss nachdenken, okay?“   „O- okay.“ Jämmerlich. Ich klinge jämmerlich und so, als würde ich jeden Moment in Tränen ausbrechen. Um ehrlich zu sein, ist mir auch nach Heulen zu Mute, weil ich nicht verstehe, was passiert ist. „Kann … darf … wäre es okay, wenn ich dich morgen anrufe?“   „Ich melde mich bei dir.“ Seine Worte sind kalt wie Eis und schneiden tief in mein Fleisch, aber ich nicke nur, zu mehr bin ich nicht fähig.   „Komm gut nach Hause.“ Mein Wispern verklingt ungehört– er hat sich bereits zu weit von mir entfernt. Ich warte, bis ich seine Schritte nicht mehr vernehme, dann ziehe ich leise die Tür ins Schloss. Wie betäubt gehe ich wieder nach oben, schalte die Anlage und die Lichter im Wohnzimmer aus und schlurfe mit den Tassen in den Händen die Treppe hinunter in die Küche. Zäh fließt die heiße Schokolade, die mittlerweile kalt geworden ist, den Ausguss im Spülbecken hinunter und ich beobachte den kleinen Strudel, der sich bildet. Der unsinnige Gedanke, dass Uruha nicht einmal einen Schluck gekostet hat und das, wo ich die heiße Schokolade nur seinetwegen gemacht habe, ist der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.   Eine Träne stielt sich aus meinem Auge, dann noch eine und noch eine. Ich muss ein bemitleidenswertes Bild abgeben, wie ich hier stehe und in das Spülbecken heule, denn als Reita – ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seit Uruhas Fortgehen vergangen ist – in die Küche kommt, nimmt er mich wortlos in den Arm. Wie er aus meinem zusammenhanglosen Stammeln und Schniefen schlau werden kann, wird mir für immer ein Rätsel bleiben, aber er begreift schneller, als mir das in seiner Situation möglich gewesen wäre.   „Uruha braucht bestimmt nur Zeit, so wie er es gesagt hat“, murmelt er, die Wange gegen meinen Kopf geschmiegt und beginnt, beruhigend über meinen Nacken zu streicheln. „Lass uns ins Bett gehen. Er wird sich morgen bei dir melden und dann könnt ihr über alles reden.“   Ich nicke, nicht in der Lage, ihm verbal zu antworten, und lasse mich ins Schlafzimmer dirigieren. Minuten später liege ich im Bett, erneut hat Reita die Arme um mich geschlungen. Die Dunkelheit umhüllt mich, genau wie seine Nähe, und lässt mich langsam wieder zur Ruhe kommen.   „Danke Rei“, flüstere ich gegen den Stoff seines Shirts und erschauere wohlig, als er mit beiden Händen über meinen Rücken reibt.   „Wofür denn?“   „Dass du immer für mich da bist.“ Er schnaubt ein unterdrücktes Lachen und küsst meinen Schopf.   „Ich kann gar nicht anders, du bist mein Leben.“   „Und du das meine.“ Ich hebe den Kopf, versuche sein Gesicht im vorherrschenden Dunkel des Schlafzimmers auszumachen, aber es gelingt mir nicht. Einen irrationalen Augenblick lang fühle ich mich allein, treibend in der unendlichen Schwärze, die mich umgibt. Reitas Hand an meiner Wange hält meinen Fall auf, erdet mich, lässt mein Herz hart gegen meinen Brustkorb hämmern.   „Es ist alles gut, Blue. Gib ihm und dir die Zeit, die ihr braucht.“   „Ja.“ Langsam senke ich den Kopf, bis mich der warme Atem meines Freundes zu seinen Lippen dirigiert. Er küsst mich gemächlich, unendlich liebevoll, als wäre ich das Kostbarste auf der Welt für ihn. Wieder stielt sich eine Träne aus meinem Augenwinkel, rinnt meine Nase hinab und mischt ihren salzigen Geschmack mit dem Reitas, der mir so vertraut ist. Obwohl der Abend desaströser nicht hätte enden können, nistet sich in mir die Gewissheit ein, das Uruha verstanden hat, was ich ihm sagen wollte. „Ich hoffe so sehr, dass er mir … uns eine Chance gibt.“   „Das wird er.“   Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Reita recht behält. Es muss einen anderen Grund gegeben haben, warum Uruha so reagiert hat, warum er ohne eine Erklärung fortgegangen ist. Wenn ich nur wüsste, welchen. Die Ereignisse des Tages fordern ihren Tribut, lassen meine Gedanken immer langsamer werden. Ich fühle, wie mir die Augen zufallen, kuschle mich zurück an Reitas warmen Oberkörper. Während sanfte Finger stetig durch mein Haar streicheln, sinke ich immer tiefer in die wartenden Arme des Schlafes. Uruha wird sich morgen melden, ganz sicher, und dann können wir alles klären.   Doch er meldet sich nicht. Nicht am nächsten Tag, nicht am darauffolgenden und als beinahe eine Woche vergeht, ohne dass ich ein Wort von ihm höre, bin ich bereit, aufzugeben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)